Aus meinem Karottenfahrerleben
Vol.2_Die Katharsis. Das Glück.

 

Morgenmüde wanke ich in´s Kühlhaus Numero Eins, falle dort, während sich die große, automatische Tür hinter mir schließt, sogleich in eine mehr oder minder unergründliche Ohnmacht, aus der ich, eingeklemmt zwischen grünkistig-hochaufragenden Paletten und tüchtig durchfroren erst Stunden später wieder erwache, woraufhin ich, in jahrelangem, hartem Training auf solche Situationen vorbereitet, umgehend den Tauchsieder aus meinem Survival-Belt reiße und… Nein, natürlich alles Unfug, Spaß beiseite: Heute habe ich für Sie nur spärliche Insider-Infos, heute möchte ich mich eher den –sagen wir– erkenntnistheoretischen, den philosopischen Aspekten ebenjenen Seins als Karottenfahrer widmen. Es ist schließlich die Zeit Weihnachtens, des Jahreswechsels, möglicherweise des Innehaltens, der inneren Einkehr, und dies zumal unter den verstörenden Bedigungen von Corona – da kann man ruhig einmal ein wenig weiter ausholen, will mir scheinen, und sich am großen Bogen versuchen…
 
Wir putzen das Bad, tragen den Müll nach draußen. Wir gehen einkaufen, gehen ins Büro, ziehen Wände hoch, vertreten Mandanten, verkaufen Autos. Fahren grüne Kisten durch die Gegend oder erledigen sonstwelche Arbeit, sei sie selbstauferlegt oder von außen an uns herangetragen. Wir tun unablässig lauter Dinge. Tun wir sie um ihrer selbst willen? Oder um sie hinter uns zu bringen? Weil wir wollen, weil wir müssen? Das wird jede und jeder für sich zu beantworten wissen (oder auch nicht), doch eines scheint mir festzustehen: Wir verspüren oftmals so etwas wie eine Erleichterung, gar ein Frei- oder zumindest doch Freierwerden, nachdem wir ebendiese Dinge getan haben. Wir verspüren eine Frische, ein Bereitsein. Für etwas Höheres vielleicht, etwas Wichtigeres. Etwas, von dem wir undeutlich ahnen, daß es unserem Sein zuträglich wäre. Daß wir indes oftmals erschöpft vor dem Fernseher landen, und dort alles Große Wichtige Schöne bis tief in die Nacht hinein zur Unkenntlichkeit zerflimmern, ist eine andere, gleichfalls bedeutsame und durchaus tragische Geschichte, jene unseres andauernden Scheiterns. Doch halten wir uns zunächst an die andere Seite derselben Medaille, an jenes Freierwerden, an die alltägliche Katharsis.
 
'Katharsis' – was war das noch gleich? Konsultieren wir hierzu den Duden, Band Nummer Fünf, Fremdwörterbuch, von 1974:
"Katharisis, gr. … Reinigung … 1. Läuterung der Seele … als Wirkung des antiken Trauerspiels … 2. das Sich-Befreien von seelischen Konflikten und inneren Spannungen …" Aha, so so. Geht´s auch ein bißchen volkstümlicher? Ja. Und nein.
 
Besinnen wir uns kurz: Welche Ferne liegt wohl zwischen uns und dem mythischen Sisyphos mit seinem unablässig zurück ins Tal rollenden Stein, kaum, daß er ihn unter entsetzlichen Mühen nach oben auf den Berg bugsiert hat? Oder so herum: Wie weit entfernt sind wir wohl von der erstaunlichen Erkenntnis, daß wir tatsächlich ziemlich nah an ihm dran sind, am Sisyphos, und uns gewissermaßen in enger Nachbarschaft zu ihm befinden, in Sicht- und Hörweite? Wenn Sie ganz still werden und aufmerksam in sich hineinlauschen, dann werden Sie wahrnehmen: Wir können ihn doch stöhnen hören, wie er sich da plagt und abrackert, hören doch durch ihn hindurch uns selber stöhnen, ja, wir können gleichsam im Spiegel dieses Mythos´ erblicken, wie uns selbst unser Stein –welche Gestalt oder Form auch immer er in unserem Leben annehmen mag– ein ums andere Mal zurückrollt zum Ausgangspunkt. Und genau damit hat sich die beschauliche Distanz zu irgendeiner pitoresken Antike, die uns nichts weiter anginge, aufgelöst in einem stets gegewärtigen Hier und Jetzt, das niemanden nicht beträfe, das uns alle angeht. Und von irgendwoher ruft uns jetzt auch noch der gute Herr Camus zu, wir müßten uns den Sisyphos als glücklichen Menschen denken. Du meine Güte! Wenn der da in seinem griechischen Ursumpf glücklich sein soll – was sollen dann wir sein, was sind dann wir? Vorausgesetzt, das wäre überhaupt etwas dran, mit der Ähnlichkeit und dem Spiegel und so. Doch wir erkennen bereits vage: Es ist vieles eine Frage unserer Sicht auf die Dinge, unserer Haltung. Glas halbleer? Halbvoll? Entscheidend für unser Befinden oder zumindest von wesentlichen Beitrag scheint wohl unser Bewußtsein zu sein, unsere Reflexion über das de facto oder auch nur vermeintliche Augenfällige. Jessas!, kann man denn nicht einfach mal so in Ruhe und Frieden leben? Ja. Und nein. Sie wissen schon…
 
Punkt 2. der Definition scheint da zunächst schon naheliegender; wir alle kennen und erleben bisweilen dieses Gefühl der Entspannung, wenn wir durch sind mit unserern Pflichten für diesmal, wenn uns neue Energie zufließt und wir diesen Moment der Bereitschaft für wer-weiß-was-alles verspüren, ungeachtet des Umstandes, daß wir ihn zu und zu oft verstreichen lassen und im Grunde nicht weiterkönnen oder -wollen und uns der Erschöpfung hingeben und dem, was uns Erholung ist oder wir dafür halten. – Puh! Spüren Sie auch, wie dieses Thema sich verselbstständigt? Wie das allzu Leichte aus dem Ton schwindet und sich eine gewisse, schmallippige Ernsthaftigkeit breitmacht? Na, jetzt sind wir nun bis hierher gegangen, da gehen wir auch weiter, oder? Wir bleiben einfach dicht beieinander und halten uns bei den Händen.
 
Was hat nun dieses mit jenem zu tun, wo bleibt die Karotte? Das ist eigentlich recht einfach, siehe Sisyphos: War das Karottenauto gestern abend nicht so herrlich leer, alle Kisten ausgeliefert, nichts vergessen, alles bei Ihnen angekommen? Und das Bad – war das nicht vor zwei Tagen noch so hübsch blankgeputzt? Wieso quillt der Müllsack über? Und die Steuererklärung, ist die schon wieder fällig? Also erledigen wir, worum wir nicht umhin können: Tragen, putzen, schreiben, schleppen. Machen, tun. Und kommen ein ums andere Mal an jenen Punkt, an dem unser Werk vollbracht ist, sei es klein wie ein entsorgter Müllsack, sei es umfänglicher wie ein ganzer Arbeitstag. War das Lieferauto am Morgen noch voll bis unters Dach, so ist es am Abend doch wieder leer, gereinigt, geradezu geläutert, und jene besagte Beschwingtheit breitet sich erneut aus. Doch – ist das nun das Glück? Dieser Augenblick, in dem die Last des Tages von uns abfällt und wir uns erschöpft und heiter zugleich auf den Heimweg machen, den Rechner zuklappen, das Büro abschließen, das Licht löschen? Nein, eher ist es ein Moment der Leichtigkeit, möglicherweise verbunden mit einer gesteigerten Empfänglichkeit für das, was uns umgibt, die Welt, in der wir uns bewegen; für die Dinge und Menschen die wir lieben; die Schönheit. Für das Heilige des Seins, jenseits allen Glaubens und Meinens. Hier beginnen jene Räume, in denen wir unserem Glück begegnen, dem Glück, welches das Sein für uns bereithält. Doch – bedeutet das soeben Behauptete nicht letztlich, daß unser Lebensglück lediglich eine Feierabendveranstaltung wäre? Nein, natürlich nicht. Wir sind noch immer bei Punkt 2. unserer Definition, und gewiß ist wohl, daß uns unsere tägliche Brotarbeit –und je fremder sie unseren Neigungen und Möglichkeiten ist, desto mehr– unter Anspannung setzt, unter Streß, uns auslaugt, erschöpft. Und so nimmt es kaum Wunder, daß jene Katharsis (nennen wir sie Kleine Katharsis) uns wieder und wieder begegnet, wenn wir diese Arbeiten hinter uns gebracht haben. Diese Kleine Katharsis ist indes von außerordentlich überschaubarer Dauer, sie hat eine sehr kurze Halbwertzeit. Und spätestens am nächsten Morgen, zum nächsten Schichtbeginn, beim Hochfahren des Rechners im Büro ist sie zerfallen und nichts davon mehr übrig. Und so geht es immer weiter. Wir kommen nicht ans Ende. Und es soll auch gar nicht aufhören, nie! Es ist schließlich unser Leben. Doch wo ist darin unser Glück ge- oder verborgen, wenn überhaupt? Sie werden nicht annehmen, Sisyphos empfände sein höchstes Glück in jener Schufterei, die ihm der Felsbrocken ein ums andere Mal bereitet, immer und immer wieder, unablässig, tagein, tagaus. Wenn es aber diese Momente nicht sind (und wir sollten an dieser Stelle Sisyphos nicht mit einem Bodybuilder, dessen Beziehung zur Lastenschlepperei eine grundlegend andere ist, verwechseln) – welche sind es dann? Das ist wohl in diesem Kontext die entscheidende Frage. Vielleicht sogar eine der entscheidensten Fragen unseres Lebens überhaupt. Und sie ist weißgott nicht leicht zu beantworten.
 
Kommen wir daher zurück zu Punkt 1. unseres Wörterbucheintrages, der Läuterung der Seele, dem antiken Trauerspiel. Die Läuterung beschreibt das Klarwerden, den Zustand des Gereinigtseins, des Bereitseins für Eindrücke und Empfindungen, die uns wesentlich sind. Demnach ist die Läuterung der Seele jener Zustand, in dem wir –befreit vom Ballast der Pflichten und der Banalität des allzu Kleinen– bereit sind, uns unseres Seins in der Welt ganz unverstellt gewahr zu werden. Hier wären wir dann in Analogie zu unserer etwas simplen Wortschöpfung von der Kleinen Katharsis bei jenem Zustand angelangt, den wir hier und heute ganz privat für uns folgerichtig mit Große Katharsis benennen wollen. Und in diesem Zustand kommt uns das antike Trauerspiel zur Hilfe, so, wie große Kunst dies eben zu tun vermag, gleichviel, ob es sich hierbei um Malerei, Musik, Tanz, Literatur oder eben das Theater handelt. Sie –die Kunst– erlöst uns mitnichten von unseren Problemen, unseren Aufgaben, aber sie ist an unserer Seite, wenn wir uns ihnen stellen. Sie vermag uns Türen zu öffnen, Wege zu ebnen, Richtungen zu weisen. Uns Heimat zu geben und Trost. Uns zu orientieren. Und uns zu helfen, zu verstehen, wer wir sind: Menschen in einer wunderbaren, wunderschönen Welt. Obwohl wir sie fortgesetzt überziehen mit Kriegen und Müll, mit hemmungslosem Konsum und hedonistischer Rücksichtslosigkeit…
 
Hier möchte ich langsam zum Schluß kommen, mit dem Zustand der Großen Katharsis und ihrer Bedeutung für unser Glück, vielmehr noch für unser Vermögen und unsere Bereitschaft, unser Glück überhaupt zu erkennen und wahrzunehmen. Denn dieses Glück ist der unverstellte Ausdruck puren Seins, unseres Seindürfens, es ist der stete Unterstrom unseres Lebens, unserer Alltäglichkeit, unserer Plackerei und –ja– unseres Feierabends, unserer freien Zeit, in der wir tun könnten, was wir so oft nicht tun: Uns zu spüren. Es ist da, jenes Glück, ständig. Vielleicht hilft es ein wenig, sich vorzustellen, es sei nicht etwa unser Glück (so, wie unser Handy oder unser Auto), sondern vielmehr das Glück an sich. Ein universelles Glück, ein Reservoir, zu dem wir immer und immer wieder zurückkehren und an dem wir teilhaben können. Es ist da, während wir uns mit unserem Stein den Berg hinanquälen, und es ist ebenso selbstverständlich da, wenn er unseren wunden Händen entgleitet und wieder an den Anfang zurückrumpelt. Und genau darauf müssen wir uns einlassen und es immer wieder neu zu verstehen versuchen, bevor alles vorbei ist, bevor wir uns am Rande der Grube unsicher umblicken und fragen, ob das denn schon alles gewesen sei, und uns weigern, dem Tod, unserem Tod, zu begegnen, und schließlich zu brüllen beginnen, und uns verzweifelt an ein Leben zu klammern, das wir doch so oft ingnoriert und verdrängt haben, ersetzt durch ein beständiges Kaufen und Saufen und Autofahren und Habenwollen und Nichthinsehen. 'Philosphieren heißt Sterbenlernen', sagt Montaigne sinngemäß, und man darf getrost hinzufügen: Des Todes gewiß am Leben zu sein, ist bereits eine ungeheuerliche Erfahrung von Glück.
 
Die Große Katharsis ist nicht das geputzte Bad, das leere Auto am Ende eine Liefertages, das herabgelassene Rolleau im nachtdunklen, fremdgewordenen, verschlossenen Büro – die Große Katharsis bereitet uns den Weg hin zum Verspüren einer haltgebenden, oftmals jenseits aller Worte beglückenden, unverbrüchlichen Beständigkeit in all´ jener Unbeständigkeit, die ein jedes menschliches Leben mit sich bringt, ein Aufjauchzen des Herzens im Glücksschmerz. Und natürlich –das hat sie mit ihrer Schwester, der Kleinen Katharsis gemein– ist auch sie kein unablässiger, alberner, gleichermaßen lauter wie lauer Zustand sorgloser Launigkeit, grell und konfettigesättigt, sondern vielmehr einer, in welchem die ruhig und breit dahinströmende Gewißheit eines universellen Aufgehobenseins wächst und gedeiht. Nein, das ist nicht immer so, nicht selten scheinen uns die Wege dorthin verstellt, Sie haben vollkommen recht. Und – ja, es gibt viele, viele Momente des Schmerzes und der Trauer, des Haderns und der Bitterkeit, in welchen man den Verfasser solcher Zeilen nur zu gern und mit grimmigem Vergnügen in den Hintern träte für seine vermeintlich wohlfeilen Verheißungen. Und selbstverständlich gibt es Schicksale, die deart hart sind, daß sie meinen Worten Hohn zu sprechen scheinen. Aber sind sie deshalb falsch? Darüber müssen Sie bitte selbst befinden. Und es ist die Zeit zwischen den Jahren hierfür sicherlich nicht die schlechteste.