Aus meinem Karottenfahrerleben_Vol.3 - Angst, Liebe und Spitzpaprika

 

Es heißt, zwei Regungen trieben die Menschen im Wesentlichen an, Angst und Liebe. Natürlich fallen uns sofort lauter weitere Motive ein, die Gier zum Beispiel oder der Neid, die Selbstlosigkeit und der Wunsch, zu teilen. Doch wenn wir sie genauer untersuchen, so sind sie am Ende doch zumindest tendentiell den beiden erstgenannten zuzuordnen. So scheint mir die Gier wohl Ausdruck der Angst vor einem Zukurzkommen zu sein, und beim Neid verhält es sich ganz ähnlich, wohingegen sich das mehr oder minder selbstlose Teilen aus einer empathischen Sorge um das Miteinander und dem Wunsch nach Gerechtigkeit speist, also eher in Richtung der Liebe weist. Und die Liebe wiederum erst ermöglicht uns den Blick auf die Schönheit, auf die Schönheit in einem ganz umfänglichen Sinn: Die Schönheit des Seins in seiner zurückhaltenden Alltäglichkeit, in besonderen Augenblicken, in Begegnungen, in der Natur, im Bewußtsein der Kostbatkeit des reinen Da-Seins als geschwisterlicher Teil eines gedeihlichen Miteinanders. Klingt Ihnen das zu pastoral, vielleicht ein wenig zu groß? Ja, das stimmt, das kann man so empfinden. Aber ich meine es auch gar nicht kleiner.
 
Sie könnten ja spaßeshalber einmal im Familienkreis Wetten abschließen, wieviele Sekunden es braucht, bis das C-Wort fällt, nachdem Sie Radio oder Fernseher angeschaltet haben. Oftmals werden Sie nicht sonderlich lange darauf warten müssen. Für Angst ist gegenwärtig also tagein tagaus ausreichend gesorgt, und daher möchte ich mich vorzugsweise der Liebe widmen und ihren Äußerungen, der Schönheit. Denn darum geht es zumindest mir in meinem Leben. Nicht nur, versteht sich, ich bin ja kein Heiliger. Aber doch ganz wesentlich. Nicht um die Anhäufung von Besitz, nicht darum, andere Menschen zu dominieren und ihnen meinen Willen aufzudrängen. Sondern darum, die Schönheit wahrzunehmen. Und das geht meiner Ansicht nach –und da lehne ich mich gerne weit aus dem Fenster– ganz einfach nicht ohne Liebe.
 
Eigentlich ist die Sache doch unglaublich simpel: Je weniger wir die der Welt und die dem Leben innewohnende Schönheit zu erleben imstande sind, desto mehr werden wir darauf angewiesen sein, uns materiellen oder auch emotionalen Ersatz zu beschaffen, um den in uns klaffenden Spalt irgendwie zeitweise zu verstopfen. Wir müssen von innen nach außen, müssen uns verlassen. Also kaufen wir uns eine neue Küche. Die alte war zwar noch gut, aber was soll´s. Da war so eine unangenehme Leere in uns; und da kommt uns die neue Küche sehr gelegen, paßt sie doch wunderbar hinein in diese Leere und scheint sie ganz auszufüllen. So, wie das neue Auto. Obwohl das alte noch ziemlich passabel war. Wie auch der alte Fernseher, der nicht wirklich 'alt' war und auch nur ein bißchen kleiner, als der neue. Egal. Wir kochen uns also in unserer sagenhaften, neuen Küche mit dem neuen Kaffeeautomaten (wir hatten zwar eine intakte Kaffeemaschine, aber das neue Ding gab´s beim Kauf der Küche quasi umsonst dazu) einen unglaublich leckeren Kaffee, nein, einen Cappuccino!, werfen durch die Gardine einen Blick nach draußen, wo unser neues Auto parkt (wir haben es extra so hingestellt, daß wir es von hier aus betrachten können), und schlendern entspannt und überzeugt, unser Leben im Griff zu haben und es wohlüberlegt zu gestalten, hinüber zu unserm neuen, ultimativen Fernseher. Wir schlürfen genüßlich unseren Was-auch-immer und schauen uns dabei einen Naturfilm in überwältigender Brillanz an. Dann ist unser Kaffee ausgetrunken, der Naturfilm vorüber. Was jetzt? Klar: Nächster Kaffee, nächster Film, am besten gleich eine Serie. Ich will´s nicht weiter ausmalen, aber es deutet sich an: Die Lücke in uns, die schmerzhafte Leere – ist immer noch da. Hinter Cappuccino, neuer Küche und Super-HD-Glotze beginnt sie, erneut hervorzuschimmern. Und jetzt? Erstmal eine rauchen? Gläschen Likör zum Kaffee, für die Stimmung? Noch ´ne Runde um den Block mit der neuen Kutsche? Neues Wohnzimmer, wo wir schon mal dabei sind?
 
Wir spüren, daß wir gefangen sind, in einer Falle stecken. Wer hat sie uns gestellt, wie kommen wir da raus? Ah – wir suchen uns jemanden oder etwas, dem wir die Schuld geben können. Dazu müssen Verbündete her, dann läuft das Schimpfen und Schuldzuweisen irgendwie schmissiger. Woran Schuld? Das ist manchmal nicht wirklich klar, aber es verhilft uns zu etwas Ablenkung von unserer eigenen Misere. Wir schimpfen auf die Regierung, wir schimpfen auf die Opposition. Auf die Sozis, auf die Rechten. Auf den Nachbarn mit seinem ollen Kläffer. Auf die anderen und auf die, die noch anders sind. Schimpfen auf´s System, verdammen die Revolution. Wir diskutieren nicht, wir stellen klar, daß wir die Guten sind. So. Darauf einen Dujardin, nein, besser gleich zwei, doppelt hält besser. Fernseher an, Fernseher aus. Schimpfen. Heute schon acht Kaffee, Zigarretten sind auch alle, Likör dito… Mein Gott, wie anstrengend! Wieviel Energie und Mittel bereitgestellt werden müssen, um diesen zerbrechlichen Zustand der Zufriedenheit, der vorübergehenden Beruhigung herbeizuführen! Und was war noch der Ausgangspunkt, das Grundgefühl? Angst. Und sei sie noch so diffus. Angst, die sich versteckt hinter einer Unzahl vermeintlicher Bedürfnisse, Angst, die sich auf´s Vielfältigste kostümiert…
 
Oh, ich sehe Sie schon ganz verzweifelt vor mir, doch Rettung naht, denn gottseidank habe ich ein Zaubermittel für Sie, Hilfe zur Selbsthilfe: Unsere rote Spitzpaprika! Alternativ böte sich auch unser Chicorée an. Ähm – muß das von uns, muß das von der 'Flotten Karotte' sein, werden Sie sich jetzt fragen? Müssen im allerstrengsten Sinne – nein. Aber für diese Zaubermittel kann ich bedenkenlos meine Hand ins Feuer legen, sie sind von mir persönlich erprobt und haben sich auf´s Köstlichste bewährt!
 
Worum geht es also, was können diese Mittelchen, das meine neue Küche, mein toller Flatscreen nicht können? Nun, sie können Sie zur Ruhe bringen, zu sich selbst. Sie können Ihnen helfen, sich zu öffnen, wach und aufmerksam zu werden, sich in eine liebevolle Beziehung zu Ihrer Umwelt zu setzen. Das können ein feiner Kaffee oder Tee in gewisser Hinsicht auch, doch da wir uns allzu sehr an einen unbewußten Umgang mit diesen Getränken gewöhnt haben, muß etwas anderes her, etwas Reineres, Unverbrauchtes; etwas wirklich Überraschendes! Soweit so gut, aber: Eine Paprika, ein Chicorée – überraschend? Ja, genau das! Was für eine unverfälschte, klare Geschmacksexplosion steht Ihnen bevor, was für ein  Bewußtseinsschub, wenn Sie diese Erkenntnisrakete zünden! Setzen Sie sich entspannt an einen ruhigen, schönen Platz. Betrachten Sie, was Sie da in Händen halten, nehmen Sie Formen und Farben wahr. Und beginnen Sie, Ihre Paprika ganz bewußt und langsam zu essen. Bereiten Sie sie nicht zu, zerschneiden Sie sie nicht, nehmen Sie keine Gewürze, kein Öl. Nur die reine Frucht. Und. Die. Langsam. Essen. Konzentrieren Sie sich auf den Geschmack, auf die Konsistenz, auf das mit ziemlicher Sicherheit aufkommende Gefühl, just in diesem Moment etwas Gutes für sich zu tun. Spüren Sie etwas? Möglicherweise –einem leisen, süßen Hintergrundsummen nicht unähnlich– so etwas wie Dankbarkeit? Spüren Sie die Verbundenheit, wenigstens aber den praktischen Zusammenhang zwischen sich und der Welt, dieses Beziehungsgeflecht aus Ihrer Person, jener Paprika und dem Boden, der diese Frucht hervorgebracht hat? Geben Sie sich Zeit. Versuchen Sie es wieder und wieder, es ist jeder Anstrengung wert! Paprika, Chicorée oder was immer an Obst und Gemüse Ihnen sonst für diese (Genuß-) Übung geeignet erscheint, vermögen Ihnen zu vermitteln, was Ihnen keine neue Küche, kein noch so großer Fernseher, keine noch so reichhaltig bestückte Hausbar zu vermitteln imstande sind: Eine Rückbesinnung auf Ihre tatsächliche Beziehung zur Welt, physisch wie psychisch. In diesen Momenten des aufmerksamen (und ganz nebenbei extrem genußreichen) Essens erleben sie – Schönheit. Beim Chicorée ist es nicht anders: Lassen Sie die bitteren Geschmacksanteile zu, heißen Sie sie willkommen, und spüren Sie der ebenfalls vorhandenen Süße nach und wie sich aus alldem etwas Drittes und Viertes, etwas Neues entwickelt. Obwohl Sie dergleichen doch schon so oft gegessen haben, werden Sie Neues, bislang Ungeschmecktes erfahren. Und um die Übung komplett zu machen: Versuchen Sie, während dieses Vorganges des sich Einverleibens (wie treffend dieses Wort doch sein kann!) an etwas ganz anderes zu denken, vielleicht sogar etwas, daß Sie ärgert, auf die Palme bringt. Sie werden feststellen: Beides zusammen geht nicht. Die vertiefte Selbstwahrnehmung und der Ärger bewegen sich auf entgegengesetzten Wegen. Nicht in einer Richtung. Was also tun? Sich entscheiden, immer wieder. Sich entscheiden, welchen Weg man beschreiten will. Manchmal ist diese Entscheidung nicht so einfach, das weiß ich wohl. Doch grundsätzlich müssen und sollten wir sie immer wieder treffen. Dazu ist die Kenntnis alternativer Wege vonnöten. Und diese Kenntnis vermittelt Ihnen unsere Pparika. Ist das nicht erstaunlich und wunderbar? Wenn Corona einmal vorbei ist, werde ich vielleicht ein Seminar abhalten, hier in der Karotte, 'Gemüse und Bewußtsein'. Was meinen Sie, wär´ das was? Wir würden gemeinsam Paprika und Chicorée oder Nüsse oder herrlich herbe Rauke genießen und über´s Sein philosphieren. Das stelle ich mir schön vor! Bis dahin aber müssen Sie sich selbst helfen und heilen – und unter uns: Auch das geht gut. Aber nochmals: Geben Sie sich Zeit! Wenn die Paprika gegessen ist, müssen Sie nicht gleich die nächste hinterherschieben, ja, Sie sollten es auch gar nicht. Lassen Sie sie wirken. Es geht hier nicht um Mengen. Versuchen Sie, sich im Laufe des Tages daran zu erinnern, an dieses Gefühl von Reinheit, Lauterkeit. Und wenn Sie darin eine gewisse Übung haben, werden Sie feststellen, daß es womöglich gar nicht die Paprika ist, auch nicht der Chicorée. Sie selbst sind es, Sie allein! Ihre Haltung. Die Paprika ist gewissermaßen lediglich ein Katalysator, ein Spiegel. Sie können Sie zerkocht und ohne es recht zu merken während irgendeiner Ablenkung in sich hineinstopfen, Sie können sie aber auch –eine einzelne Paprika!– zu einem Fest werden lassen, letztlich zu einem Fest mit sich selbst (und in der Gemeinschaft natürlich auch mit anderen, indem Sie Ihre Freude mit-teilen).
 
Eine weitere Möglichkeit, sich wieder näher an sich selbst heranzuführen, ist ein Gang in die Natur. Und gerade jetzt, in der eigentlich so kargen Winterzeit, zeigt sich an mancher Stelle eine Formenfülle und Reichhaltigkeit, die uns im Sommer ganz verborgen bleibt: Das Geäst der Büsche und Bäume. Was für eine ungeheuerlich schöne, Welt! Und wie unterschiedlich! Betrachten Sie das Astwerk der Birken, das der Buchen, der Eichen! Das enge, steile Geäst in der Mitte der Haselgebüsche. Sie lernen nach und nach, die diversen Eigenheiten zu erkennen, vielleicht entwickeln Sie daraus auch Vorlieben für dieses oder jenes Muster. Eine meiner Lieblingsilhouetten ist jene der Erlen, deren Gewirr sich mit der Dauer des Schauens zunehmend entwirrt und wunderschöne Arabesken bildet, gestützt von den vielen Knotenpunkten der kleinen, rundlichen Zapfen. An der Ruhr oder am Baldeneysee finden Sie diese Art reichlich. Und all´ die anderen Bäume auch. Und wenn Sie dann den Blick gesättigt senken und wieder auf den Weg schauen, wird Ihnen dieser Tage –zumal in der einsetzenden Dämmerungnicht selten ein Rotkehlchen geradezu vor die Füße geweht werden, so scheint es. Ich bin immer zutiefst angetan von der Zutraulichkeit, mit der uns diese kleinen Vögel begegnen. Bewegen wir uns langsam und sachte, können wir ihnen sehr nahe kommen. Sie reagieren sogar auf meine unbeholfenen Versuche, pfeifend mit ihnen in Kontakt zu treten. Meist legen Sie nur das Köpfchen schief, doch ab und zu antworten sie sogar mit einigen Trillern…
 
So gibt uns die Kargheit der winterlichen Natur doch sehr viel mehr als nur den Mangel, den wir voreilig in fehlender Wärme und vergangener Blüte wahrzunehmen meinen. Sie legt den Blick frei auf Essentielles, Bedeutsames, auf das tragende Gerüst, auf Grundmuster. Im Außen wie im Innern. Und sie unterstützt sie uns dabei, uns auf uns zu besinnen. Wenn wir es denn zulassen. Aber das hatten wir ja eben schon, die Sache mit den Entscheidungen… Na, bloß gut, daß Sie uns an Ihrer Seite haben – und unsere Paprika! Und als letzten Tip für heute, gerichtet an alle fortgeschrittenen Erkenntnissuchenden: Nehmen Sie das Gemüse (hatte ich erwähnt, daß auch Möhren sich eignen?) doch einmal mit nach draußen, genießen Sie es unter freiem Himmel, in der Kühle und Klarheit dieser Tage. Aber seien Sie gewarnt: Das Gefühl der Nähe zu sich selbst, der Verbundenheit mit der Natur – das alles hat gefährlich hohes Suchtpotential! Nicht, daß mir da Beschwerden kommen! Die 'Flotte Karotte' kann leider nur für´s gelieferte Gemüse haften, nicht für Ihr Seelenheil – auch, wenn wir gern das Unsere dazu beitragen…