Am Rande eines Meeres aus Zwiebeln sitzt der Klaus, der Felchnerklaus wie man im Süddeutschen wohl sagen würde, rechts und links neben sich je einen Drahtkorb. Im einen – rechts von ihm– der frische Fang aus dem Zwiebelmeer, lauter ungesäuberte Zwiebeln, so, wie sie vom Acker kommen, und im anderen – ihm zur Linken – die zur Einlagerung vorbereiteten, befreit von ihrem langen Kraut und hier und da den äußeren Schalen und grobem Schmutz. Alle einzeln, keine Maschine, Zwiebel für Zwiebel. Jede einzelne wandert durch seine Hände, wird begutachtet, beschnitten, gereinigt. Die aussichtslosen Fälle landen in keinem der Drahtkörbe, sondern auf einem Haufen für sich. Zwiebel für Zwiebel für Zwiebel. Wie sagte noch Camus? Man müsse sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen denken. Oh ja, so etwas kann einem hier durchaus in den Sinn kommen, wenn man den Klaus so sieht, an den neonfunzelscheunendunklen Gestaden seines Zwiebelmeeres. Wenn ich das jetzt nicht mache, sagt Klaus, wenn ich mir jetzt nicht die Mühe mache hier mit den Zwiebeln, dann werden sie mir verfaulen. Ist der linke Drahtkorb voll, verteilt er die Zwiebeln auf lauter kleine Stapelkisten. Da können sie luftig lagern und vergammeln nicht vor der Zeit. Mal nebenbei – siebenundsechzig ist der Klaus. Doch wenn man sich vorm inneren Auge so einen Rentner in spe malt, dann ist man hier so ganz falsch, weil der Klaus dafür einfach keine gute Blaupause abgibt. Irgendetwas unverbrüchlich Junges hat er an sich, etwas Agiles. Ich tippe mal, das wird er auch nicht mehr los, selbst, wenn er hundert wird. Man könnte ja mal spaßeshalber versuchen, sich den Klaus vorzustellen mit beiger Rentnerweste und griesgrämigem Blick in der Warteschlange vor einem Ausflugsbus, auf dem „Clubreisen“ steht ...
Während er also versucht, das Zwiebelmeer auszutrocknen, sprechen wir über dies und das. Über Feldraine zum Beispiel und wie üppig es da einstmals wuchs und blühte. Vor fünfzig Jahren. Er erzählt mir von einem Buch, Rachel Carson, „Silent Spring“. Da stand schon in den 60ern alles drin, sagt er, konnte man alles schon damals wissen, wenn man wollte. Und man konnte entsprechend handeln. Wenn man wollte. Carson war Biologin und eine frühe Umweltaktivistin. Ihr Buch trug dazu bei, dass DDT in den USA verboten wurde, so eklatant waren die von ihr aufgezeigten Schädigungen von Mensch und Umwelt. Zudem wollten die Amerikaner nicht, daß der Weißkopfadler, immerhin ihr Wappentier!, gänzlich ausgerottet wurde – nein, da wurden sie sentimental, da hörte dann doch der Spaß auf.
Der Klaus muß mal wohin und ich stromere ums Haus herum, gehe hinüber auf die angrenzenden Felder, zu den Obstbäumen und -büschen. Und bei jedem Schritt, wirklich jedem!, springen vier, fünf, sechs Heupferdchen zur Seite, kleine braune Grashüpfer. Wäre das hier keine biologisch, sondern eine konventionell bewirtschaftete Fläche, dann spränge hier gar nichts. Wie uns schon besagte Frau Carson zu berichten wusste. Biolandwirtschaft bedeutet Haltung, bedeutet Bewusstsein.
Biolandwirtschaft ist eine Entscheidung, nicht einfach bloß Zufall oder Erbfolge. Das wird deutlich, auch hier draußen bei Monika, der Hofdame, wenn ich so sagen darf, Klausens Frau, der Herrin der Beeren, des Hofladens und des gegenwärtig –wir ahnen es– geschlossenen Hofcafés. Man kriegt aber die leckeren Quiches und Kuchen weiterhin, jetzt halt zum Mitnehmen. Unter uns – man würde einen Fehler machen, wenn man einfach dran vorbeiliefe. Jetzt hat die Monika einen Kartoffelkäfer auf der Mütze, mitten oben drauf, wie´n hübscher kleiner Knopf. Nächstes Jahr müssen wir Netze über die Kartoffeln machen, sagt sie, sonst fressen die Viecher sie uns auf. Sagt es, und bedauert die gestreiften Krabbelbanditen zugleich, weil sie langsam nichts mehr finden und verhungern müssen. Der Käfer wandert alldieweil unbehelligt über ihren Mützenschirm. Ich versuche, Monika und den Käfer auf ihrem Mützenschirm zu knipsen, aber es klappt nicht – es gibt berufenere Actionphotographen als mich. Andererseits: Brauchen wir wirklich von allem Bilder? Jederzeit?
Wie auch immer – Monika pflückt weiter rote Johnnisbeeren, eine anstrengende Arbeit, die wacher Sorgfalt bedarf. In einiger Entfernung am anderen Ackerende die Töchter, auch am Pflücken. Katharina ist eine von ihnen, studiert Psychologie, allerdings im Fernstudium, damit sie hier helfen kann. Ob sie sich vorstellen könne, den Hof einmal zu übernehmen? Ja, kann sie. Na bitte, damit ist dann auch die Fruchtfolge geklärt. Nee, falsch jetzt – 'Nachfolge' muß es heißen. Die ist geklärt…
So, jetzt ist es mal gut für heute, ich hab' ich mich schon ziemlich verquasselt, obwohl es noch einiges zu berichten gäbe. Über die wohlgeordneten kleinen Gewächshäuser, in denen Setzlinge vorgezogen werden und Gurken wachsen. Über die Liebe, die einer Energie gleich über und zwischen allem wabert. Über die alten, blauen Trecker, Marke Eicher. Oder über das alte Haus: Von 1776. Meine Güte, 1776! Da haben die Vereinigten Staaten ihre Unabhängigkeit erklärt. Und in Königsberg brütete Kant über seinen so menschenfreundlichen Thesen, wohl dunkel ahnend, daß es mit der Vernunft und der den Menschen innewohnenden moralischen Gesetzen nicht so unendlich weit her sein könne. Na – jedenfalls macht der Klaus das hier am Rande des kleinen Mülheimer Flugplatzes schon ewig, quasi seit 1776, wie wir jetzt wissen, und das ist doch schön, wie einer so beharrlich sein kann!
Beizeiten möchte ich noch –erinnern Sie mich ruhig daran – von einer Pflanze berichten, einer, die sich –auch hier– selber aussäht und schmackhaft ist, roh, gekocht. Zum Beispiel wie Spinat kurz blanchiert, dann ab ins heiße Olivenöl mit Knoblauch und Salz und gut is', ganz umsonst! 'Melde' heißt sie und wird von den Bauern nicht gar so sehr geliebt wie von mir, um es mal vorsichtig zu sagen. Was sie im Übrigen mit dem Kartoffelkäfer und der Ackerwinde gemeinsam hat. Und alle drei haben nun ihrerseits gemeinsam, daß man sie nur dort findet, wo man die Gegend mit Gift verschont. Wie uns ja schon Frau Carson – aber ich wiederhole mich. Ihr Buch gibt's übrigens immer noch zu kaufen, es hört ja nicht auf, aktuell zu sein. Gibt's bei C.H.Beck als Taschenbuch, heißt, 'Der stumme Frühling', und kostet nicht die Welt. Hm – noch was? Ah – ich muß dran denken, den Basti wegen des Tischkatzennamens zu fragen, den bin ich Ihnen ja noch schuldig…