Es ist morgens, wir sind auf der Straße, unterwegs nach Witten. Neben mir in meinem betagten Peugeot Sekouba, einer unserer Auszubildenden. Der Himmel ist grau verhangen, kalter Regen fällt. Ich denke: Die Wischerblätter haben ihre beste Zeit definitiv hinter sich. Ich frage mich: Warum sitze ich nicht bei mir daheim, in der Wärme, im Trockenen; trinke Kaffee, zeichne vielleicht, schreibe, spiele ein wenig Klarinette… Kennen Sie das? Man wäre gerne woanders und täte an diesem anderen Ort vorzugsweise Dinge, die man getrost mit 'Lieblingsbeschäftigungen' umschreiben könnte? Dieses hätte-wäre-könnte, das von Zeit zu Zeit in unseren schwachen Momenten so schmerzhaft in unsere Gegenwart hineingrätscht? Na sicher kennen Sie das, wer kennt es nicht? Schon als Kinder spöttelten wir, 'Wenn das Wörtchen wenn nicht wär´, wär´ ich heute Millionär'. Und ohne die durchaus tragische Dimension des soeben Aufgesagten bereits ermessen zu können, zwinkerten wir einander vielsagend zu angesichts der allzu kurzen, vermeintlichen Greifbarkeit des Reichtums und seiner freiheitlichen Möglichkeiten im Kehrreim der zweiten Zeile, in welcher der Millionär sternschnuppengleich aufscheint, um kurz darauf und unwiederbringlich zu verglühen, und nichts zu hinterlassen als das bedrückende Gefühl, der Verpuffung der eigenen Möglichkeiten im fröhlichen Konjunktiv beigewohnt zu haben. Hadern nennt man das. Ein ganz unerfreulicher Seinszustand, in welchem das Vergebliche der Vergangenheit das Mögliche im Hier und Jetzt überlagert und verdunkelt, denn der Hader führt uns zuallermeist lediglich in den Groll, nicht ins Verstehen… Doch um Ihretwillen nehme ich das gute Ende jetzt ausnahmweise einmal vorweg, bevor Sie womöglich nun Ihrerseits noch anfangen, Trübsal zu blasen: Den nachmittäglichen Heimweg vergoldete uns die Herbstsonne, der Himmel war wie blankgeputzt und wir –Sekouba und ich– waren allerbester Dinge. Und auf dem Rücksitz drängten sich all´ die Tüten verschiedenster Kartoffeln, die Bernie uns zum Abschied geschenkt hatte. Und wer war jetzt noch gleich Bernie? Stimmt – da klafft nun eine deutliche Lücke in meinem Bericht.
Ich fange mal so an: Was wissen Sie über den Weg der Kartoffeln, sagen wir mal, ab dem Zeitpunkt, wo sie vom Acker kommen? Oder meinen Sie, da gäbe es so großartig wohl nichts zu wissen, ganz im Sinne von – raus aus´m Acker, rein in die Tüte, zack zu Edeka, und gut is´? Bevor ich bei Bernie und Dirk (ja ja, ich stelle Ihnen die beiden noch vor, bitte Geduld, alles der Reihe nach), bevor ich also dort auf dem Hof war, hätte ich mich vermutlich Ihrer Ansicht angeschlossen: Was soll da schon noch groß passieren? Aber – bis schließlich die Kartoffeln in die Tüte fallen und Sie sie im Supermarkt auf´s Kassenband legen oder aber –und dieser komfortable Weg sei Ihnen hiermit ganz uneigennützig ans Herz gelegt– aus Ihrer grünen Karottenkiste nehmen, haben sie viele Meter Förderband hinter sich, werden gebürstet und gewienert, werden über verschieden dichte Gitter geleitet, in denen sie sich der Größe nach zueinander gesellen, poltern gepolsterte Schächte hinunter, werden per Auge und in Handarbeit schlußbegutachtet und dann größensortiert in diverse Vorratsbehälter befördert. Diese sind unten mit großen Schiebern versehen, und je nach dem, welche Kartoffelsorte gerade eingetütet werden soll, wird der entsprechende Behälter geöffnet. Ah, alles klar, und unter die Öffnung hält man die Tüte und da purzeln die Knollen ´rein, stimmt´s? Nein, immer noch nicht. Von da geht´s nämlich wieder auf ein Förderband und in eine ganze Batterie kleinerer Kammern, die allesamt mit elektronischen Waagen ausgestattet sind, und hier, auf den buchstäblich letzten Metern, wird es technisch noch einmal sehr anspruchsvoll. Denn um möglichst exakt und eichgenau auf das benötigte Gewicht zu kommen, wird mittels eines speziellen Rechnerprogrammes in Sekundenschnelle die ideale Zusammenstellung ermittelt, woraufhin sich die entsprechenden Kammern automatisch öffnen und die berechneten Kartoffelmengen freigeben. Und über ein –Ehrenwort!– allerletztes, kurzes Förderband geht es endlich in Sack oder Tüte. Und bitte, nur zur Erinnerung: Das alles, nachdem die Kartoffeln geerntet sind. Und glauben Sie mir: Das war eine wirklich kurze und grobe Beschreibung, die ich Ihnen da jetzt geliefert habe. Ich bin halt nicht Bernie. Der kann das alles viel besser erklären, mit tausend Details rund um die ganze Angelegenheit. Allein die großen Trockenkammern mit ihren riesigen Lüftern, von denen ich jetzt gar nicht erst anfangen will…
Erinnern Sie sich noch, was ich neulich über den Felchnerklaus berichtete? So ist es auch mit Bernie: Er widerspricht herzlich lachend und im Laufschritt so ziemlich jedem Bild, das wir uns von Menschen im Rentenalter machen. Da begegnen Sie einfach keinem alten Mann, wenn er so vor Ihnen steht, erklärt, gestikuliert, Sie treppauf und treppab scheucht, den verschlungenen Pfaden der Kartoffeln folgend. Oder wenn Sie mit ihm in einem der warmen, würzig duftenden Getreidesilos über Leitern und Holzgeschosse ganz nach oben krabbeln, fast wie in einem Kirchturm. Irgendwann muß auch ich mir aus Bernies Worten zusammenklauben, daß er wohl doch stramm auf die Siebzig zugeht. Aber so wirkt er eben nicht. Und während man also bemüht ist, mit seinen Ausführungen und seinem Tempo Schritt zu halten, wirft er zwischendurch hier ein Förderband an und erläutert dort eine erstaunliche Vorrichtung, unermüdlich und gutgelaunt. Und weil doch nichts über die Erfahrung praktischen Tuns geht, sortieren er und Sekouba, untermalt vom beständigen, sonoren Gerumpel der kollernden Kartoffeln in den Tiefen der Förderschächte, zu guter Letzt noch eine viertel Stunde lang in der Endkontrolle per Hand aus, was keinesfalls in die Tüte kommen darf: Schlechte oder angeschlagene Kartoffeln, Steine, Mumien, Blindgänger – was man halt auf Äckern so findet.
Und weil das alles hungrig macht, entscheidet Bernie schließlich, daß es Zeit für´s zweite Frühstück sei. Und hier, in einem hellen, gemütlichen Raum im ersten Stock mit viel Fensterfläche und weitem Blick übers Wittener Land begegnen wir nun einigen weiteren jener Menschen, die für all´ das Tun und Gelingen hier maßgeblich sind: Zuallererst natürlich Bernie und Dirk. Sie sind gewissermaßen die Könige der 'Holter Knolle', die Regenten des Team Kornkammer. Zu blumig? Dann also ganz volkstümlich: Sie beide sind die Gründer und Chefs dieses Biohofes, der im Übrigen sehr viel mehr hervorbringt, als lediglich Kartoffeln (hierzu empfehle ich Ihnen die hofeigene, gut gemachte, sehr informative Website zur Lektüre). Und während Dirk den Kaffee zubereitet und Bernie beängstigend mit seinem Stuhl herumkippelt, darf ich Ihnen des weiteren vorstellen: Stefan, Bernies Sohn, von Hause aus Mechatroniker. Er hat beispielsweise dieses Karoffellabyrinth gestaltet, von dem Sie ja nun einen ungefähren Eindruck haben, und er hat die komplexen Beförderungs- und Trocknungsvorgänge in den großen Getreidesilos erdacht, entworfen und berechnet, denn viele jener dort verwendeten Bauteile und Gehäuseelemente kann man nicht einfach von der Stange kaufen. Da ist echter Tüftler- und Erfindergeist gefragt. Ich ziehe sämtliche in meinem Besitz befindlichen Hüte und Mützen vor derlei Fähigkeiten. So, und dann hätten wir da den Leonhard, Dirks Sohn, der hier auch rege mitmischt. Der Sebastian ist da, von dem ich grad gar nicht weiß, was sein Aufgabenbereich ist, der aber genauso fröhlich und aufgeschlossen ist wie alle anderen. Und endlich kommt auch noch Aurélien herein, jener liebenswerte Monsieur, den es –auch Klischees haben bisweilen ihre einfache Wahrheit– der Liebe wegen aus seiner bretonischen Heimat hierher verschlagen hat. Es ist furchtbar nett hier oben über der Landschaft, ich könnte ewig sitzen bleiben und über Gott und die Welt mit diesen so angenehmen Leuten sprechen. Aber natürlich geht das nicht. Die Kartoffeln tüten sich ja nicht selber ein. So wenig, wie Raps und Mohn sich selbtständig zu jenen feinen Ölen pressen, die künftig das Sortiment auch in der 'Flotten Karotte' um weitere kulinarische Attraktionen bereichern.
So – und wie sagt man doch gleich, wenn man zum Ende kommen will: Das dazu. Zum Abschied gibt uns Bernie neben den eingangs erwähnten Kartoffelgeschenken noch einen ziemlich guten Tip mit auf den Weg: Für Ofenkartoffeln auf dem Blech nehme man am besten solche wie die 'Marabel', eine vorwiegend festkochende Sorte. Bislang habe ich für dieses Gericht (aber bitte, Herrschaften, niemals ohne Rosmarin!) stets festkochende Sorten benutzt. 'Das machen die meisten', sagt Bernie, verschmitzt lächelnd, 'aber die andern sind leckerer'. Was soll ich sagen – wo er recht hat, da hat er recht, der Bernie. Und wie wir vom Hof fahren, der Sekouba und ich, da hat ein warmer Wind eingesetzt, der Regen ist vergessen, die Sonne lacht. Und wir – wir lachen auch, beschenkt, beglückt. Was für schöne Begegnungen, was für ein herrlicher Tag! Und – wie fing er noch gleich an, dieser Tag, morgens, im Auto...?